Keine Penis-Perspektive mehr

Reggae steht oft unter Homophobie-Verdacht. Lesbischer Reggae, geht das? Aber ja, Chocolate Remix macht es vor, auch auf dem wunderbaren Festival Wassermusik, das sich diesmal der Musik am südlichen Atlantik widmet.

Eine junge Frau steigt aus der Dusche, sie hat ein rotes Handtuch um ihren nackten Oberkörper gebunden. Frisch geduscht macht sie sich auf den Weg in ihre Garderobe, entledigt sich ihres Handtuchs und beginnt – nun oberkörperfrei – zu stampfenden Computer-Drums und Reggaeton-Rhythmen zu tanzen. Sie sucht sich eine grün-schwarze Weste aus, die sie gar nicht erst zuknöpft und legt sich ins Bett – zu einer anderen nackten Frau. Sie küssen sich. Dann kommt eine ­dritte Frau ins Bild, die die zweite zu küssen beginnt. Es folgt eine lange Kamerafahrt über ein endlos scheinendes Bett, in dem sich Frauen in unterschiedlichsten Positionen gegenseitig befriedigen.

Dazu erklingen spanische Textzeilen wie: „Me gusta la mujer empoderada, me gusta mucho mas si se come esta empanada.“ Was ungefähr so viel bedeutet wie: „Ich mag die starke, selbstermächtigte Frau, doch noch mehr gefällt sie mir, wenn sie diese Empanada isst“ – womit für gewöhnlich ­gefüllte Teigtaschen bezeichnet werden, oder aber die weiblichen Genitalien. Am Ende des Videos führt uns die Kamera zu der Künstlerin, die hinter diesen Zeilen steckt: zur argentinischen Sängerin Romina Bernardo, die sich Chocolate Remix oder einfach Choco nennt und deren Mund auf dem Cover ihres Albums „Sátira“ schokoladenverschmiert ist.

Ihr vor knapp drei Jahren veröffentlichter Videoclip „Como me gusta a mí“ steht für nichts Geringeres als eine kleine Revolution, für die Neubegründung eines Genres aus dem Geist feministischer Emanzipation: Lesbian Reggaeton. Allein in der Kombination dieser beiden Wörter liegt das Neue, Unerhörte. Denn wie kaum ein anderes Genre stand Reggaeton allzu oft im Zeichen des Testosteron, der Macho-Rhetorik und Homophobie. Von der ersten Stunde an – in den 90er-Jahren, als Underground-Musiker in Puerto Rico jamaikanische Dancehall-Rhythmen mit spanischen Texten verknüpften – handelten Reggaeton-Songs von der Gewalt auf der Straße, von schnellen Autos, Sex und Sperma, immer aber aus der Penis-Perspektive, die für die Frau im Grunde nur die Rolle der „gata“ vorgesehen hatte – der Katze, deren wesentliche Funktion darin bestand, den Mann zu befriedigen.

„Ich habe es immer geliebt, zu Reggeaton zu tanzen“, sagt Romina Bernardo am Telefon in Buenos Aires, „fühlte mich in den Texten aber nicht repräsentiert“. Also begann sie, das Genre von innen heraus zu transformieren, die Musik queer-feministisch umzudeuten und die lateinamerikanischen Sexisten mit ihren eigenen Waffen zu schlagen.

Befreiung von Rollenerwartungen

Am 21. Juli ist Chocolate Remix beim Wassermusik-Festival im Haus der Kulturen der Welt (HKW) zu erleben, dessen Fokus dieses Jahr, wie bereits 2004, auf Küns­tler*innen des südlichen Atlantiks liegt, ausgehend von „The Black Atlantic“, einem Buch des britischen Kulturwissenschaftlers Paul Gilroy. Er beschreibt darin eine afrodias­porische „Gegenkultur der Moderne“, die nicht spezifisch afrikanisch, amerikanisch, karibisch oder britisch ist, sondern alles auf einmal: eine schwarze, atlantische Kultur. Und die äußert sich vor allem über die Musik, wie das Festival des HKW in Doppelkonzerten von jungen Neuentdeckungen und Altmeistern zeigt – wie der mehrfachen Grammygewinnerin Ange­lique Kidjo, die sich am 21. Juli mit Chocolate Remix die Bühne teilt.

Bild: Emmanuel Nemm & Julian Merlo

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