Filmpionier Paul Strähle hält mit seiner Kamera fest, was der von Nazi-Deutschland entfesselte Krieg in der Sowjetunion für die Menschen bedeutet: Vernichtung, Zerstörung, Massenmord und Millionen dem Tod geweihte Kriegsgefangene. / Foto: ZDF und Paul Strähle, Agentur AKH

TV-Tipp: Wir im Krieg – Privatfilme aus Hitlers Reich

Mainz/Ganderkesee (fs) – Zum 75. Jahrestag des Kriegsendes 1945 bietet die Dokumentation von Jörg Müllner auf der Grundlage von privatem, teils unveröffentlichtem Filmmaterial aufschlussreiche Einblicke in das Leben während des Zweiten Weltkriegs. Diesen Teil unserer Geschichte dürfen wir niemals vergessen.

Die Privataufnahmen sind denkwürdige Zeugnisse einer Zeit, die mit Propagandabildern geradezu überschüttet wurde. Bewusst oder unbewusst geben die meisten Filmemacher preis, wie sie trotz der katastrophalen Lage an der Front und der Zerstörungen in der Heimat weiter hinter dem NS-Staat stehen. Doch gibt es auch Ausnahmen, bei denen kritische Distanz zum Ausdruck kommt. So tragen die Filme dazu bei, unser Bild von der NS-Zeit zu ergänzen und zu differenzieren.

Stefan Brauburger, Leiter der ZDF-Redaktion Zeitgeschichte

Nach dem Erfolg der Dokumentation “Wir im Krieg. Privatfilme aus der NS-Zeit”, die zum 80. Jahrestag des Kriegsausbuchs im August 2019 gezeigt wurde, hat Autor Jörg Müllner seine Recherchen in Stadtarchiven, Landesbildstellen und privaten Sammlungen fortgesetzt. Auch diesmal ist es ihm gelungen, erstaunliche Filmschätze zutage zu fördern: Etwa Aufnahmen einer Unternehmer-Familie aus Stuttgart, deren Firmensitz als einziges Gebäude auf dem zentralen Marktplatz die Zerstörungen des Krieges – wenngleich schwer beschädigt – überstand. Es zeigt die Angehörigen beim Versuch, ihr Wohnhaus mit einem Tarnanstrich zu schützen, aber auch bei scheinbar unbeschwerten Ausflügen ins Grüne. Oder die Farbfilme eines Zahlmeisters der Wehrmacht, der privat ein Doppelleben führte. Seine Aufnahmen bergen auch ein lang gehütetes Familiengeheimnis.


Ein Oberfeldarzt filmt an der Ostfront Soldaten in Baströckchen, die ihre Kameraden in einer Kampfpause mit Tanzeinlagen unterhalten. / Foto: ZDF und Heinz Schünemann, Haus des Dokumentarfilms/Landesfilmsammlung Baden-Württemberg

Bislang unbekannte Luftaufnahmen vermitteln Eindrücke vom Vormarsch der Wehrmacht an der Ostfront im Sommer 1942. Paul Strähle, Filmpionier aus Schorndorf bei Stuttgart, hat sie gedreht. Fliegen und Filmen machten ihn schon in den 1920er Jahren in Deutschland bekannt. Im Krieg dreht er als Offizier in der Luftaufklärung mit seiner privaten Kamera die Ostfront von oben. Seine Aufnahmen  zeigen Stellungen der Roten Armee, Truppenaufmärsche, aber auch zerstörte Städte. Am Boden dokumentiert Strähle auf Farbfilm den Vormarsch der Wehrmacht im Sommer 1941 und wie sich der Krieg nach der Niederlage vor Moskau wendet. Seine Aufnahmen zeigen auch sowjetische Kriegsgefangene, die jüdische Bevölkerung vor Ort und die öffentliche Hinrichtung von Partisanen.

Das Filmmaterial eines Oberfeldarztes aus Meerane ist ebenfalls ein bemerkenswerter Archiv-Fund: Dr. Heinz Schünemann dokumentiert nicht nur sein Familienleben, sondern zeigt auch den Alltag der Soldaten an der Front. Neben Bildern von Einsätzen gibt es ungewöhnliche Aufnahmen während der Freizeit. Zu sehen sind etwa “die lustigen Landser”: Soldaten in Baströckchen, die ihre Kameraden mit einer vergnüglichen Tanzeinlage unterhalten. Sozialpsychologe Prof. Harald Welzer berichtet, dass dies keineswegs ungewöhnlich sei, denn in jedem Krieg gebe es “leere Zeiten, wo überhaupt nichts passiert”, in denen dann aber “Feste und Feierveranstaltungen bei der Truppenbetreuung” stattfinden. Momente, die in unserem Bild vom Krieg eher weniger auftauchen”, meint Welzer.


75 Jahre nach Kriegsende gewährt die Doku “Wir im Krieg – Privatfilme aus Hitlers Reich” einen neuen Blick auf den Alltag im Zweiten Weltkrieg – an der Front und in der Heimat: Was macht der Krieg aus den Menschen, wie gehen sie mit dem Ausnahmezustand um? Die Dokumentation erzählt mit einzigartigen – oft in Farbe gedrehten – Privatfilmen die Geschichte von Menschen im Krieg. / Foto: ZDF und Agentur AKH

Frühlingsblumen, Sommerfreuden, Ernteglück und Schneeballschlacht – die vier Jahreszeiten in strahlenden Farben. Filmpionier Friedrich Michel versucht dem Schrecken des Krieges in seinen Bildern bewusst etwas Schönes entgegenzusetzen und dreht für das Vorprogramm seines Kinos in Heidenheim an der Brenz aufwändige Filme von der Natur und dem Alltag der Menschen.

In derselben Stadt lebt zu dieser Zeit die kleine Doris Hurler, die mit dem Down-Syndrom zur Welt gekommen war. Ihre Familie kümmert sich rührend um das Kind. Private Filmaufnahmen zeigen das fröhliche Mädchen im Kreise ihrer Freunde und Angehörigen. Die Bilder wirken fast wie eine Demonstration gegen das Mordprogramm der Nazis an Menschen mit Behinderung. 1943 kommt Doris unter ungeklärten Umständen ums Leben – ihre Familie glaubt bis heute, dass Doris bei einer “Behandlung” der “Kindereuthanasie” zum Opfer fiel.

Auch Aufnahmen aus dem sogenannten “Judenlager Hellerberg” bei Dresden sind in der Dokumentation zu sehen. Der Schwarzweiß-Film ist eigens dafür in hoher Qualität neu digitalisiert und restauriert worden. Ein Foto-Laborant der Firma Zeiss Ikon hatte ihn 1942 aufgenommen. Die Bilder dokumentieren das Leben der Menschen im Sammellager, bevor sie im März 1943 nach Auschwitz deportiert wurden. “Es sind besonders berührende Aufnahmen”, kommentiert Filmwissenschaftler Dr. Tobias Ebbrecht-Hartmann den Film: “Zum Teil sind es die letzten Blicke von Menschen, deren Namen wir nicht einmal mehr kennen.” Nur zehn der fast 300 Gefangenen überlebten den Holocaust.

Neben Experten, wie Filmwissenschaftler Ebbrecht-Hartmann (Universität Jerusalem), Militärhistoriker Prof. Johannes Hürter (Institut für Zeitgeschichte München) und Sozialpsychologe Prof. Harald Welzer, kommen in der Doku auch Angehörige, Kinder und Enkel der damaligen Hobbyfilmer zu Wort. Sie erinnern an die Entstehungsgeschichte der Filme und an die Menschen, die dieses Erbe hinterlassen haben.

Die Privatfilmer und ihr Material

Paul Strähle


Die Luftaufnahmen von Filmpionier Paul Strähle dokumentieren die Zerstörungen in der Sowjetunion nach dem Einmarsch der Wehrmacht. / Foto: ZDF und Paul Strähle, Agentur AKH

Der Filmpionier Paul Strähle kommt aus Schorndorf bei Stuttgart. Neben dem Fliegen ist das Filmen seine große Leidenschaft. Den Ersten Weltkrieg hat er als Jagdflieger erlebt. 1921 bekommt Strähle als erster Privatunternehmer in Deutschland eine Konzession für den Passagierdienst auf zwei Fluglinien. Nach Inflation und Insolvenz verdient Strähle sein Geld mit Luftbildern. Aus dem Doppeldecker heraus fotografiert er Deutschland von oben, macht über 40.000 Luftbilder von Stuttgart, München, Köln, Hamburg und vielen anderen Städten. Seine Luftaufnahmen aus den 1920er und 1930er Jahren zeigen ein Land, das es so nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr geben wird. Während des Krieges ist Paul Strähle Offizier in der Luftaufklärung und filmt mit seiner privaten Kamera das Geschehen aus der Luft und am Boden. Die Bilder von der Ostfront dokumentieren, was der von Nazi-Deutschland entfesselte Krieg in der Sowjetunion für die Menschen bedeutet: Vernichtung, Zerstörung, Massenmord und Millionen dem Tod geweihte Kriegsgefangene. Paul Strähles Filmbestand ist außerordentlich in seiner thematischen Vielfalt.


Filmpionier Paul Strähle ist während des Zweiten Weltkriegs Offizier der Luftaufklärung und filmt mit seiner privaten Kamera das Geschehen aus der Luft und am Boden. Die Bilder von der Ostfront dokumentieren die Zerstörungen, den Massenmord und Millionen dem Tod geweihte Kriegsgefangene. Paul Strähles Filmbestand ist außerordentlich in seiner Vielfalt. / Foto: ZDF und Paul Strähle, privat

Heinz Schünemann

Heinz Schünemann aus dem sächsischen Meerane ist Chirurg und Chefarzt des örtlichen Krankenhauses, im Krieg ist ihm als Oberfeldarzt das Feldlazarett der 6. Armee unterstellt. Mit seiner Frau Ilse hat er fünf Kinder: drei Söhne und zwei Töchter. Die Familie lebt in einer Villa mit eigenem Pool. Die Privatfilme zeigen das scheinbar unbeschwerte Leben einer wohlhabenden Familie, die dem NS-Regime zugetan ist. Zwei Söhne besuchen die Napola Ballenstedt, eine NS-Eliteschule, in der sie zu Führungspersönlichkeiten erzogen werden sollen.


Oberfeldarzt Heinz Schünemann mit seiner Frau Ilse und den fünf gemeinsamen Kindern. Der Arzt aus dem sächsischen Meerane filmte sein privates Umfeld, aber auch den Einsatz an der Ostfront. In der Ukraine, wo Schünemann mit der 6. Armee stationiert ist, dokumentierte er Land und Leute, aber auch die Soldaten in ihrer „freien Zeit“. / Foto: ZDF und Familie Schünemann, privat

In der Ukraine, wo Schünemann mit der 6. Armee stationiert ist, dokumentiert er Land und Leute, aber auch die Soldaten in ihrer “freien Zeit”. Im November 1942 wird die 6. Armee in Stalingrad eingekesselt. Nicht nur Heinz Schünemann sitzt hier fest, auch sein ältester Sohn Dieter, der kurz zuvor eingezogen wurde. Heinz Schünemann kommt mit dem Leben davon, doch der Krieg fordert das Leben seiner ältesten Söhne, Dieter und Jochem. Seine Frau Ilse nimmt sich und den beiden Töchtern Andrea und Heidi im Juli 1945 das Leben, als die Rote Armee Meerane besetzt. Schünemanns Haus wird enteignet. Mit seinem jüngsten Sohn Christian, der als einziges Kind überlebt, zieht der Mediziner ins schwer zerstörte Pforzheim. Dort holt ihn die Vergangenheit ein: Als Chefarzt des Krankenhauses in Meerane hatte er gemäß Anordnungen des NS-Regimes auch Zwangssterilisationen durchgeführt. Nach dem Krieg stuft ihn die Spruchkammer in Vilshofen als “Belasteten” ein. Er findet einen ehemaligen Patienten als Fürsprecher und wird von einer Berufungskammer am 29. April 1948 als “Mitläufer” quasi freigesprochen.

Familie Bletzinger

Agnes und Erwin Bletzinger besitzen ein Schuhgeschäft am Stuttgarter Marktplatz – ein Traditionshaus seit 1890. Erwin Bletzinger ist begeisterter Hobbyfilmer und dreht, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bietet. Das Leben der Familie kreist um das Schuhhaus am Marktplatz. Entsprechend groß sind die Sorgen, als im Bombenkrieg immer mehr Städte angegriffen und stark zerstört werden. 1943 kommt der Luftkrieg auch in der Heimat an. Um sein Haus vor Angriffen zu schützen, streicht Erwin Bletzinger es mit Tarnfarbe an. Am Ende des Krieges sind alle Gebäude am Stuttgarter Marktplatz zerstört. Nur die Mauern vom Haus der Bletzingers ragen noch aus den Trümmern heraus.

Familie Hurler


Familie Hurler aus Heidenheim an der Brenz filmte ihre Tochter Doris, die mit dem Down-Syndrom zur Welt gekommen war. Im NS-Reich lebte das kleine Mädchen in ständiger Lebensgefahr, da Hitler die Ermordung psychisch Kranker und geistig Behinderter angeordnet hatte. / Foto: ZDF und Familie Hurler, privat

Die Familie lebt in Heidenheim an der Brenz. Das Ehepaar Berta und Michael Hurler betreibt ein Eisen- und Haushaltswarengeschäft. Tochter Doris wird am 6. Februar 1938 geboren – mit dem Down Syndrom. Für die Familie ist die kleine Doris ein “Sonnenschein”. Beim Spaziergang zeigt sie sich mit dem Mädchen offen auf der Straße. In der NS-Zeit keine Selbstverständlichkeit, denn Kinder mit Behinderung sind damals in Lebensgefahr. Im Oktober 1939 hatte Hitler die Massentötung psychisch Kranker und geistig Behinderter angeordnet. 70.000 Menschen fallen dem sogenannten “Euthanasie-Programm” zum Opfer, darunter 4.200 Kinder. Zwar werden im August 1941 nach massiven Protesten von Eltern und prominenten Kirchenvertretern die Massenmorde in Tötungsanstalten eingestellt, doch gehen der Krankenmord und die “Kinder-Euthanasie” dezentral und im Geheimen bis Kriegsende weiter. Nach einer amtlichen Anordnung müssen Kinder, die wie Doris an “Mongolismus” leiden, beim Gesundheitsamt gemeldet werden – oft mit tödlichen Folgen. Als Doris 1943 erkrankt und an Atemnot leidet, rufen die Eltern einen Arzt. Kurz darauf ist Doris tot, verstorben an Kehlkopfstenose und Herzschwäche, wie es in der Sterbeurkunde heißt. Doch die Familie hat Zweifel. Die tatsächliche Todesursache bleibt ungeklärt.

Walther Lenger


Walther Lenger aus Leipzig ist einer der fleißigsten Hobbyfilmer seiner Zeit. Seine Filmaufnahmen bergen auch ein lang gehütetes Familiengeheimnis. / ZDF und Walther Lenger, Agentur AKH

Walther Lenger aus Leipzig ist einer der fleißigsten Hobbyfilmer seiner Zeit. Er lebt mit seiner Frau Erika und Töchterchen Edith in Leipzig und hat als Zahlmeister in der Wehrmacht Karriere gemacht. Einige seiner Filme waren bereits in der ZDF-Doku “Wir im Krieg” im August 2019 zu sehen. Lenger wirkt als geselliger Zeitgenosse, seine privaten Filme zeigen ihn oft in bester Feierlaune. Anfang der 1940er Jahre wird er zum Berufspendler zwischen Leipzig und seinem Arbeitsplatz auf der Festung Königstein in der Sächsischen Schweiz. Aufnahmen zeigen den umtriebigen Zahlmeister beim Skifahren hinab ins Tal – dort wartet seine heimliche Geliebte Elfriede. 1942 wird Lenger an die Ostfront versetzt. Im Frühjahr 1943 wird Lenger ein weiteres Mal Vater. Im Film spricht Lengers unehelicher Sohn Uwe zum ersten Mal über das lange verborgene Familiengeheimnis.

Friedrich Michel

Friedrich Michel, genannt “Kino-Michel”, ist Film-Vorführer in Heidenheim an der Brenz und Kameramann. “Die Natur erwacht” heißt sein Vorfilm, den er im Frühjahr 1940 dreht: Frühling auf der Schwäbischen Alb. Er weiß, wonach sich sein Kinopublikum in Kriegszeiten sehnt: Ablenkung und schöne Bilder aus der Heimat.

Erich Höhne

In einem Lager der Zeiss Ikon AG im Stadtteil Hellerberg bei Dresden werden 1942 die letzten noch verbliebenen Juden zusammengepfercht, insgesamt 279 Betroffene. Am 23. und 24. November filmt Labormitarbeiter Erich Höhne im Auftrag seines Arbeitgebers, was an diesen beiden Tagen geschah: Gezeigt wird der Umzug ins Lager am hellichten Tag – ein Vorgang, den jeder in der Umgebung mitverfolgen konnte. Auch die Ankunft im Lager, die Registrierung und Verwaltung hält Höhne mit der Kamera fest. Der Film zeigt aber auch die Täter, etwa Henry Schmidt, sogenannter “Judenreferent” der Gestapo Dresden. Er profitiert von der Entrechtung und Vertreibung jüdischer Dresdner und zieht in eine der Wohnungen, die von einer Jüdin geräumt werden musste. Der Film zeigt eindringliche Bilder vom Leben im Lager mitten in einer deutschen Großstadt. Meist sind es die letzten Aufnahmen dieser Menschen. Am 2. März 1943 wird das Lager geräumt, die Insassen werden nach Auschwitz-Birkenau deportiert, in die Todesfabrik. Nur zehn Menschen überleben.

Walter Gottschalk

Soldat Walter Gottschalk aus Neustadt an der Weinstraße von der 71. Infanteriedivision fotografiert am 7. August 1941 auf dem Marktplatz von Shytomyr in der Ukraine eine öffentliche Erhängung. 4000 Menschen, darunter viele Wehrmachtssoldaten, werden Zeugen, wie die Juden Wolf Kieper und Mojsche Kogan ermordet werden. Auf der Rückseite seiner Fotos notiert Gottschalk: “Zwei gehängte Judenschweine. Der Abschaum der Menschheit”. Ein Beleg dafür, dass zahlreiche Verbrechen keineswegs im Verborgenen stattfanden, sondern als angebliche Sühnemaßnahmen offen zur Schau gestellt wurden und auch bei Wehrmachtsangehörigen Zustimmung fanden. Gottschalk machte zudem Fotos von etwa 400 jüdischen Männern, die später in der Nähe von Shytomyr erschossen wurden. Die antisemitischen Kommentare auf den Rückseiten der Fotografien wertet Prof. Johannes Hürter vom Institut für Zeitgeschichte in München als “Ausdruck einer Radikalisierung und Ideologisierung von sehr vielen Wehrmachtsoldaten” zu dieser Zeit.

Familie Frien

Der Film der Familie Frien aus Berlin-Grunewald wirkt beinahe wie ein kleiner Spielfilm: Mit viel Liebe zum Detail haben die Eltern den Besuch ihres Sohnes Jochen inszeniert, der im Dezember 1943 von der Ostfront auf Heimaturlaub kommt. Nach einem Festessen soll Jochen “vom Krieg erzählen”. Er tut es und berichtet von einer Hochzeit in der Ukraine, vom Autowaschen in der Kampfpause und vom Vormarsch im Schlamm. Im Film wirkt der Krieg harmlos, von den Grausamkeiten der Kämpfe oder den Verbrechen hinter der Front ist keine Rede. Der Sozialpsychologe Prof. Harald Welzer sieht darin den Versuch der Verdrängung.

August Pöppinger

In Wien, Unterdöbling im 19. Bezirk, steht das Haus der Familie von August Pöppinger. Er ist Unternehmer, besitzt ein Metallwerk und hat beste Kontakte “nach ganz oben”. In seinen Wohnräumen versammelt er gerne wichtige Persönlichkeiten aus Politik und Kultur, aber auch der Partei und der SS. Burgschauspieler Franz Höbling mit Gattin, SS-Obergruppenführer Josef Dietrich und SS-Führer Max Schell sitzen in bürgerlichem Ambiente beisammen, während Gastgeber Pöppinger das gesellige Treiben filmen lässt. Solche Kontakte zahlen sich aus: Pöppingers Metallwerk verdient gut in Kriegszeiten und profitiert auch vom System der Zwangsarbeiter, die im NS-Staat ausgebeutet werden.

Erinnerungen an die NS-Zeit in Original-Farbfilmen

Die heutige Erinnerung an “Hitlers Reich” ist stark geprägt von den Filmaufnahmen der NS-Propaganda: Wochenschauen in Schwarzweiß mit dröhnenden Parolen und dramatischer Musik. Als 1936 der Farbfilm auf den Markt kam, ergriffen Amateurfilmer die Gelegenheit, sich ein eigenes Bild zu machen, persönlicher und unmittelbarer. Allerdings blieben Farbfilme eine Seltenheit, denn sie waren teuer: Ungefähr 250 Mark kosteten damals etwa 10 Filmminuten – ein Preis, den sich nur wenige, wohlhabende Hobbyfilmer leisten konnten. Die seltenen Filmaufnahmen sind heute eine Quelle von einmaligem Wert, denn sie gewähren subjektive Einblicke in das Geschehen hinter der von der Propaganda gezeichneten Geschichte, schlagen – als Familienerbe – förmlich eine Brücke von der Welt der Großmütter und Großväter über die Generation der Kinder bis in die Gegenwart.

Für die Dokumentation “Wir im Krieg” wurden die teils über 75 Jahre alten Aufnahmen noch einmal neu in 2K- bzw. 4K-Auflösung abgetastet und aufwändig bearbeitet. Darunter die Aufnahmen vom “Judenlager Hellerberg”. Solche Materialien für künftige Generationen zu sichern und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, ist ein wichtiger Beitrag zur Erinnerung an die NS-Zeit, im Zeichen von Diktatur, Krieg und Verbrechen.

Autor und Regisseur Jörg Müllner

Nach dem Erfolg der Dokumentation “Wir im Krieg. Privatfilme aus der NS-Zeit”, die zum 80. Jahrestag des Kriegsausbuchs im August 2019 gezeigt wurde, hat Autor Jörg Müllner für “Wir im Krieg. Privatfilme aus Hitlers Reich” seine Recherchen in Stadtarchiven, Landesbildstellen und privaten Sammlungen fortgesetzt.

Der Autor und Regisseur hat im Auftrag des ZDF schon mehrfach Filme zur Aufarbeitung der NS-Geschichte produziert und darin unveröffentlichtes Material präsentiert. So etwa in dem ZDF-Dreiteiler “Göring – Eine Karriere” (2006), in dem erstmals Filme aus dem Privatarchiv Hermann Görings gezeigt wurden. Auch in “Hitlers Österreich” (2008) gelang es ihm, unveröffentlichte Farbaufnahmen aus der NS-Zeit für seinen Film zutage zu fördern.

75 Jahre nach Kriegsende entsteht für das ZDF außerdem seine Dokumentation “Deutschland von oben 1945” (Dienstag, 5. Mai 2020, 20.15 Uhr) und “ZDF-History: “Kinder im Krieg – Was unsere Eltern erlebten” (Sonntag, 3. Mai 2020, 23.45 Uhr).

Sendetermin

Dienstag, 28. April 2020, 20.15 Uhr im ZDF.

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